Selbstversorgung in Österreich ist „glokal“

Fachbeitrag von Land schafft Leben

© Land schafft Leben 2020
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Fremdarbeitskräfte für Österreich - Europakarte © Land schafft Leben 2020
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Infografik © Land schafft Leben 2020
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15.06.2020

Österreich kann seine Bevölkerung gut mit Lebensmitteln versorgen. Doch so paradox das klingen mag: Nationale Selbstversorgung funktioniert nur durch globale Zusammenarbeit.

Zu Beginn ein kurzer Blick zurück: Als mit dem Anfang der Corona-Krise die Grenzen dicht machten, Produktionsprozesse heruntergefahren wurden und sich die Menschen in ihren Wohnungen und Häuser verbarrikadierten, stellten sich viele Menschen Fragen wie: Was passiert, wenn internationale Lieferketten zusammenbrechen? Kann Österreich sich wirklich selbst versorgen? Diese Fragen, die sich vorher selten jemand stellte und vielleicht auch nie dachte, sich diese Fragen je stellen zu müssen, entfachten während der Corona-Krise ein Gefühl der Unsicherheit gepaart mit dem Bedürfnis nach Nähe zu unseren Nahrungsmitteln: Nähe zu dieser existenzsichernden Quelle, die in unseren westlichen Ländern oszilliert zwischen Luxus und Notwendigkeit. Nach Hamsterkäufen beruhigten die Medien die Bevölkerung beinah unisono mit den hohen Selbstversorgungsgraden in Österreich und schafften so die Illusion eines in Bezug auf Lebensmittel autarken Staates.

Wie es um die heimische Selbstversorgung steht

Dieses Bild des unabhängigen Österreichs scheint auch die Statistik nicht zu zerrütten, sondern ihm vielmehr einen passenden Rahmen zu geben: Laut den aktuellen Zahlen der Bundesanstalt Statistik Austria vom Jahr 2019 versorgt sich Österreich zu 108 Prozent selbst mit Fleisch und bringt allein bei Konsummilch 164 Prozent Selbstversorgung zustande. Laut den Zahlen von 2018/2019 schafft es Österreich bei Getreide immerhin auf 87 Prozent. Lediglich was Gemüse und Obst betrifft, ist Österreich unterversorgt: Mit Gemüse kann sich Österreich nur zu 54 Prozent selbst versorgen und auch was Obst betrifft, deckt das Land nur 59 Prozent des Hungers der Bevölkerung auf Früchte wie Äpfel, Birnen und Beeren. Besonders die Versorgungsgrade von Getreide, Obst und Gemüse können jedoch von Jahr zu Jahr aufgrund unterschiedlicher Witterungsverhältnisse stark schwanken.

Die Zahlen zur Selbstversorgung kommen durch den Vergleich von Inlandsproduktion und Inlandsverbrauch zustande. Im Verbrauch stecken neben dem menschlichen Verzehr auch Tierfutter, Verbrauch für Industrieprodukte sowie verschwendete Lebensmittel. Die Selbstversorgung beschreibt also einen sehr theoretischen Wert, der auch weitere Aspekte, die für eine vollkommene Selbstversorgung vonnöten wären, verschleiert: Denn damit eine Selbstversorgung zustande kommt, braucht es unter anderem vorgelagerte Produktionsschritte außerhalb Österreichs. Hier ein paar Beispiele, die den global-lokal-gemischten Charakter unserer Lebensmittelproduktion sichtbar machen:

Dünger, Pflanzenschutzmittel und Traktoren – über globale Lieferketten

Damit Österreich überhaupt einen Selbstversorgungsgrad erreicht, müssen Rohstoffe und Betriebsmittel importiert werden, die Österreich entweder gar nicht oder nur in geringer Zahl herstellt. Mineraldünger, der auf heimischen Feldern ausgebracht wird, bekommt Österreich zum Beispiel aus Nordafrika, China und den USA. Wie verwundbar das Bild des autarken Staates wird, zeigt sich auch anhand eines fiktiven Szenarios in Bezug auf den Ausfall von importierten Pflanzenschutzmitteln:  Eine Studie vom Jahr 2011 besagt, dass bei ausbleibendem Pflanzenschutz mit etwa 30 bis 40 Prozent Ertragsausfall zu rechnen wäre. Auch die Einzelteile eines Traktors stellt Österreich nicht selbst her und verlässt sich auf die verzweigten globalisierten Zulieferkettern, die wie unsichtbare Schläuche nicht nur die Produktion europäischer Unternehmen mit dem Lebensnotwendigem versorgen, sondern damit auch indirekt dafür sorgen, dass Menschen in Österreich  mit ihren Gabeln beim Essen nicht ins Leere stechen.

Fremdarbeitskräfte aus dem Ausland

Wer Österreicherinnen oder Österreicher auf den heimischen Äckern sucht, wird nicht leicht fündig. Unkraut rupfen, Spargel stechen oder Gurkerl ernten ist in Österreich die Aufgabe von Saisonarbeitskräften aus Ländern wie zum Beispiel Rumänien, Ungarn und auch immer mehr auch aus der Ukraine.  Oft ist für die Arbeit viel Erfahrung, ein geschicktes Händchen sowie vor allem Ausdauer vonnöten. Was diese Anforderungen von den Arbeitskräften abverlangen, widerspiegelt sich nicht im Gehalt, das sich laut Kollektiv für Landarbeit auf gerade einmal 1 500 Euro brutto beläuft. Ein triftiger Grund für die österreichische Bevölkerung, die Hände von diesen Jobs zu lassen. Doch kann man noch von Selbstversorgung eines Staates sprechen, wenn dieser sich auf Hilfe aus dem Ausland verlässt und die eigene Bevölkerung nicht selbst das Essen aus den Äckern holt?

Regionaler Gusto verzerrt Selbstversorgungsgrad

Der Selbstversorgungsgrad von Schweinefleisch liegt in Österreich bei 101 Prozent. Diese Zahl lässt vermuten, dass wir bei Schweinefleisch auf keine Importe angewiesen sind, doch ist gerade das Schwein ein gutes Beispiel, um die globalen Verkettungen aufzuzeigen: In der Schweinemast werden essentielle Aminosäuren für das Futtermittel der Tiere benötigt, die China zu einem Großteil produziert und von Österreich importiert werden. Auch das Soja im Futter der Schweine kommt zum Teil noch aus Südamerika. Ist das Schwein erst geschlachtet, beginnt der globale Handel von Neuem. Wie auf der Grafik zu erkennen, wird in Österreich nicht das ganze Schwein gegessen. Viele Teilstücke werden in Staaten exportiert, deren Gusto sich über das Karree hinweg bis zum Schweinekopf erstreckt. Im Gegenzug importiert Österreich wiederum „seine Lieblingsteile“ aus anderen Ländern. Das etwa 100-prozentige Schwein des heimischen Selbstversorgungsgrades ist also ein fiktives, das sich rein aus den – aus österreichischer Perspektive - besten Stücken zusammensetzt.

Konkret bedeutete Selbstversorgung also – selbst, wenn einige Betriebsmittel und Rohstoffe noch importiert werden – Verzicht oder zumindest Umgewöhnung. Man würde auf die Lebensmittel zurückgreifen, die vorhanden sind. Vielleicht würde man auch bei manchen Lebensmitteln den Umweg über das Tier vermeiden, Tierbestände abbauen und selbst versuchen, das Futter für die Tiere zu verwerten.

Unabhängig bedeutet miteinander

Eine Selbstversorgung im engeren Sinne gibt es also nicht. Doch das betrifft nicht nur Österreich, sondern auch viele andere Staaten auf der Welt. Das Ziel muss also nicht sein, jeden einzelnen Produktionsschritt in ein so kleines Land wie Österreich zu holen, sondern globale Strukturen zu nutzen und gleichzeitig den Blick für das Lokale nicht zu verlieren. Eine „glokale“ Landwirtschaft also, die ihren Standort gut kennt, diesen effizient zu nutzen weiß und darauf achtet, nicht auch noch die letzten Schritte in der Produktionskette abzugeben.

Kurzinfo zum Verein Land schafft Leben

Land schafft Leben ist österreichischen Lebensmitteln auf der Spur. Der unabhängige und unpolitische Verein wurde 2014 in Schladming gegründet und verfolgt das Ziel, Bewusstsein für in Österreich produzierte Lebensmittel zu schaffen. Land schafft Leben steht Konsumentinnen und Konsumenten sowie Medienvertretern und Medienvertreterinnen mit umfassenden Informationen und als erster Ansprechpartner rund um österreichische Lebensmittel zur Verfügung. Über die aufklärende Webseite www.landschafftleben.at, Facebook, WhatsApp, YouTube, Newsletter, Blog, durch Vorträge sowie Medien- und Pressekooperationen bekommen Konsumentinnen und Konsumenten realistische Bilder und objektive Informationen rund um die Produktion heimischer Lebensmittel und deren Wirkung auf unseren Körper. Land schafft Leben greift auf umfangreiches Wissen von Experten aus Landwirtschaft, Wissenschaft und Forschung zurück und zeigt transparent und ohne zu werten den Weg der heimischen Lebensmittel von der Herstellung bis zu ihrer gesundheitlichen Wirkung. Land schafft Leben wird unterstützt von 61 Förderern, darunter Verarbeiter, Erzeugergemeinschaften und Vertreter des Lebensmittelhandels, sowie von privaten Spendern und gemeinnützig engagierten Personen.

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